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Heimat im Exil - Zur Grenzerfahrung des Malerdichters Johannes Wüsten

Georg Wenzel (Greifswald)

Prof. Dr. Phil. Georg Wenzel ist emeritierter Ordinarius für Geschichte der deutschen Literatur an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald und förderndes Mitglied der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz.

Sein Beitrag erschien im Sonderdruck "Die Oberlausitz und Sachsen in Mitteleuropa – Festschrift zum 75. Geburtstags von Prof. Dr. Karlheinz Blaschke, herausgegeben im Auftrag des Präsidiums der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz von Martin Schmidt Verlag Gunter Oettel, Görlitz – Zittau 2002/2003

"Der Weg ins Exil war hart für die meisten von den vielen, die ihn gehen mußten", schreibt Alfred Polgar in Der Emigrant und die Heimat, einem Abschnitt seines Buches Anderseits. Erzählungen und Erwägungen, das 1948 im Querido Verlag, Amsterdam erschien, einem der berühmtesten Exilverlage. "Nicht wenige blieben auf der Strecke. Tausende verdarben und starben im fremden Land, das Zuflucht schien und Falle wurde. Hitler war schneller als die Konsuln, von deren Laune die rettenden Visen abhingen. Die das Glück hatten, durchzukommen, lernten vorher die Schrecken und Ängste der Flucht und des Verfolgtseins gründlich kennen, gingen durch das Grauen der französischen Lager und Gefängnisse, vegetierten Monate, Jahre lang in übelsten Verstecken", setzt die Textpassage fort, die auch das tragische Schicksal des Görlitzer Malers, Grafikers und Schriftstellers Johan­nes Wüsten in charakteristischer Weise bezeichnet.

Der hochbegabte, vielseitige Künstler, in dessen Werk Kurt Tucholsky 1932 "eine Mischung von: Willi Geiger, Grosz, Kubin sah", wurde am 4. Oktober 1896 in Heidelberg geboren, hatte im August 1919 die Hamburgische Sezession mitbegründet und ging Ende 1922 nach Görlitz, wo er schon von 1897 bis 1914 gelebt hatte. Dort baute er 1925 eine Malerschule auf, organisierte die Görlitzer Künstlerschaft und verhalf der Neißestadt zu Ansehen. Als Mitglied des Antifa­schistischen Kampfbundes und seit 1932 der KPD mußte er seine politische Über­zeugung mit der Emigration bezahlen. Der Verlust der Heimat, deren Werte und Eigenheiten der Künstler in zahlreichen Beiträgen für den Neuen Görlitzer Anzei­ger und andere Zeitungen beschrieben hatte, kam einer Entwurzelung gleich. War das Exil in der Tschechoslowakei (1934-1938) noch Aufenthalt auf heimatver­wandtem Boden, so trafen die Exiljahre in Frankreich (1938-1940/41) den Nerv der Lebensexistenz. Eine autobiographische Notiz läßt die erste Exilphase fast wie Heimat erscheinen: "Die ersten Emigrationsjahre in Prag waren von einer süßen Bitterkeit. Ich liebte diese Stadt wie keine zweite auf der Welt. Jetzt erst lernte ich sie wirklich kennen. Ich fuhr in die Täler der Moldau und Sasava, lebte unter tschechischen Bauern, trank ihr köstliches Bier, hörte ihre alten Sagen. feierte ihre bunten Feste. Von den Höhen der Sudeten sah ich Deutschland". Dagegen fraß in Paris das "reguläre Heimweh nach Prag" an der Gesundheit; Wüsten bekannte Wieland Herzfelde: "Hier ist für mich kein Warm werden."

Zur Grenzerfahrung des Malerdichters Johannes Wüsten

Abgestorben schienen die Wurzeln zur Kultur und Landschaft der Wüsten zur Heimat gewordenen Stadt Görlitz, der sie umlagernden Oberlausitz und Schlesiens. Noch am 18. Dezember 1931 hatte der Künstler seinem Tagebuch anvertraut: "Man kann nun nicht mehr wissen, was kommt. Das Dritte Reich steht offenbar vor der Tür." Er spürt schon die Notwendigkeit des Davonmüssens, doch: "Ich bin von Heimatliebe erfüllt; wie man es nicht mehr sein kann. Aber diese Liebe spricht man mir einfach ab. Spricht man jedem ab, der nicht das Hakenkreuz anbetet. Der helle Wahnsinn steht unmittelbar vor dem Ausbruch". Im April 1934 die Flucht nach Prag, anerkanntes Wirken in der noch freien, aber von den Henlein-Deutschen schon unterminierten Tschechoslowakei, Noch einmal künstlerischer Auftrieb. Besessen von einem tap­feren Widerstandswillen, entstehen in rascher Folge zahlreiche aufklärerisch ag­gressive Arbeiten in Grafik und Literatur, die heute zu Wüstens besten Leistungen gezählt werden, Anregungen kamen von überall her. Als Künstler war Wüsten der Oskar-Kokoschka-Bund wichtig; als Schriftsteller hatte er sich dem Bert-Brecht­-Klub angeschlossen, Die Bekanntschaft mit Ernst Bloch (1885-1977), dessen visionäre, ins Prinzip Hoffnung mündende Philosophie für die Ausprägung von Wüstens gegenwartsorientierter Geschichtsauffassung bestimmend wurde, gehört zu den folgenreichsten Begegnungen im Exil. Der Künstler dankte Bloch 1938 mit einem eindrucksvollen Aquarell, das sich heute im Museum der Bildenden Künste in Leipzig befindet. Johannes Wüstens Heimatliebe durchdrang pointierte Presse­karikaturen ebenso wie seine Menschenverbundenheit in akribisch gearbeiteten Porträts von Widerstandskämpfern (Carl von Ossietzky, John Scheer, Etkar And­ré), Freunden (Egon Erwin Kisch, Hermann Duncker) und Lebensgefährten (bes. seine Frau) zu erkennen ist. Daneben eine Vielzahl von Arbeiten, die Funktionäre und Mitläufer des "Dritten Reiches" gnadenlos demaskieren. Das künstlerische und literarische Werk der Exiljahre ist Wüstens leidenschaftlicher Versuch, im Bild und im Wort verlorene Heimat festzuhalten, sie analysierend zu durchdrin­gen, sie erinnernd zu bewahren und mitzunehmen auf die schweren Wege in der Fremde. Ihre Vergegenwärtigung ließ Kraft schöpfen, um leben und überleben zu können.

Seit Juli 1938 lebte Johannes Wüsten in Paris, wurde, in der Folge des zwischen Hitler und Stalin im August 1939 abgeschlossenen Nichtangriffpaktes bereits im September interniert, durchstand mehrere Lager und konnte im Juni 1940, die Auflösung des geschlagenen Frankreich nutzend, fliehen. Illegal lebte er wieder in Paris, fiel, schwer erkrankt, im Januar 1941 der Gestapo in die Hände, Am 11. März 1942 wurde er vom faschistischen "Volksgerichtshof" wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" zu einer 15-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt, die sein früher Tod im Zuchthaus Brandenburg-Görden am 26, April 1943 beendete. Hatte schon die Heimat Johannes Wüsten zum bildenden Künstler gemacht, so reifte er im Exil zum Schriftsteller und Dichter. "Es leuchten unsre Spuren" schrieb Johannes Wüsten in den letzten Lebensjahren, Erinnerung an seine ehemalige Heimat und Auftrag an diese Heimat, heute!

Es leuchten unsre Spuren

Es leuchten unsre Spuren
durch die Nacht aus schwarzem Schnee.
Die roten Totenuhren
sind verstummt im weißen Klee.

Wir haben den Ring gefunden,
den trinkenden Mund und den Wein.
Wir gehen am Rande der Stunden.
Die Zeit holt uns nicht ein.

Wir schlafen in dem warmen
Lächeln von einem Stern.
Wir blühen in unseren Armen.
Die Sichel ist noch fern.

In uns sind tausend Quellen.
Sie warten auf ihre Zeit.
Sie baden das Haar und die hellen
Hände der Ewigkeit.

"Heimat" im Exil Johannes Wüstens erstand wieder aus der bildhaften Auffassung des Erlebten und Erschauten, in der schon vor dem Exil zur Gewohnheit gewordenen quellengetreuen Aufarbeitung historischer Stoffe aus dem Görlitzer und schlesischen Raum, die fiktive Gestaltung grundierte und ihre Authentizität erhöhte. Wüsten war erfüllt von einer tiefen Liebe zu den einfachen Menschen, denen er mit seiner Kunst ein menschenwürdiges Dasein zu verschaffen suchte. Die Gestaltungsidee war nach wohlüberlegter Stoffwahl für seine künstlerischen und literarischen Entwürfe zumeist zweidimensional: Der geschichtliche Vorgang sollte der Erkenntnis gegenwärtiger gesellschaftlicher Prozesse dienen. Viele in der Geschichte wurzelnden Vorgänge erlauben Analogien für die Zeitgeschichte. Zur Verdeutlichung sei auf zwei Beispiele näher eingegangen.

Der 1938 vollendete, aber nachgelassene Roman "Rübezahl" (1963 unter dem Titel "Der Strom fließt nicht bergauf" und nach dem Originalmanuskript erst 1982 ediert) führt in die Welt des Adels und der Weber im ausgehenden 18. Jahrhundert. Die verzweifelten Weber Schlesiens sind mit dem sagenhaften Berggeist Rübezahl verbündet, der mit ihnen auf Vermenschlichung des irdischen Lebens sinnt.

Johannes Wüsten, der im Roman sein Ich auf den Maler und Kupferstecher Peter Wost und Nikolaus von Nördlingen, einen sozialutopisch denkenden, republikanisch gesinnten Baron, aufspaltete, verlebendigte in diesem Erzählwerk Geschichte und Kultur des alten Schlesien, für ihn in der Fremde unverlierbare Heimat. Symbol dafür ist auch eine Bilderfolge RÜBEZAHL, die Peter Wost nach einem Hunger-aufstand entwirft. Im Roman heißt es: "Der Berggeist paßt sich neuen Formen an, verwandelt seine Kraft, sein Wesen aber bleibt das gleiche: ein Alpdruck der Reichen, ein Freund der Armen, ewig bereit, die Guten zu beglücken - ewig bereit, den Bösen Böses zu tun!"

Oder die große Erzählung "Tannhäuser", 1939 entstanden und erst 1976 ver­öffentlicht. Sie führt den Leser in die Zeit der Kämpfe gegen die einbrechenden Mongolen. Gemeinsam widerstehen deutsche, wendische und polnische Ritter und Bauern dem Mongolensturm, bringen ihn 1241 auf der Wahlstatt bei Liegnitz zum Stehen. Ein weiterer Vormarsch des stark geschwächten Mongolenheeres unterbleibt, Ergebnis des Zusarnmenschlusses vieler Menschen unterschiedlicher sozialer Bindung und Landeszugehörigkeit. Als Ziel galt, die Heimat in einer gemeinsamen Kraftanstrengung zu retten, ähnlich dem von Johannes Wüsten im französischen Exil miterlebtem, aber letztlich mißlungenem Ringen der Volksfront, alle antifaschistischen Kräfte, gleich welcher Religion, Weltanschauung oder politischen Partei im Kampf gegen Hitler zu sammeln.

Der Blick auf Johannes Wüstens Werk bezeugt, daß die im Exil, parallel zu den Arbeiten des Malers, Kupferstechers und Grafikers entstandenen literarisch-episehen und dramatischen Texte der erregenden Spannung zwischen Geschichte und Gegenwart, Verarbeitung des Fremden und Festhalten am Heimatlich-Geformten ihre große Wirkung verdanken. Das trifft für die Dramen "Weinsberg", ein Schauspiel aus der Zeit des Bauernkrieges, "Die Lehre von Mariastern" und das vielgespielte Zweipersonenstück "Bessie Bosch" (alle 1936) ebenso zu wie für epische Texte, z. B. "Mein Kampf” (1934), "”Das Forellenquintett" und "Nocturno" (beide 1935), die von der Täuferbewegung handelnde Novelle "Drei Nächte des Jan Bockelson" (1936), die "Malergeschichten", "Rübezahl" (1938) und "Tannhäuser" (1939). Spät entdeckt wurde der 1937/38 entstandene, in einem 23. Jahrhundert spielende Roman "Kämpfer gegen Kometen", den Johannes Wüsten unter dem Pseudonym Walter Wyk für die Prager "Volks-Illustrierte" geschrieben hatte, der immerhin 22 Folgen erreichte, wie H. D. Tschörtner berichtet. Seine Entstehungsgeschichte ist ein erregendes Stück Publizistik, der Ideengehalt des Romans äußerst aktuell. "Es herrscht Friede in der utopischen Welt des Romans, den Menschen geht es gut, und eine demokratische Weltordnung tritt fast nur im Notfall in Erscheinung.

Der Notfall ist hier zweifach: die Gefahr aus dem Weltraum durch den heransausenden Kometen und die Gefahr durch die menschheits­bedrohenden Termitoiden"8, deren "Gesellschaftsstruktur" damalige (1937/38) Zeitgeschichte ebenso spiegelt wie heute die Heimat bedrohenden kosmischen Ängste. Weit spannt sich der Bogen des Erzählens von Johannes Wüsten!

Überdenkt man Arbeitsmotivationen des Schriftstellers, seine Stoffwahl und militante Schreibstrategie, so fallen zwei Momente besonders auf. Zum einen ist es die konstitutive Verhaftung des Erzählten in Geschichtsprozessen und -vorgängen (z. B. Görlitzer Stadtgeschichte, Bauernkriegsgeschehen, religiöse Erneuerungsbewegun­gen und soziale Kämpfe im Schlesischen und böhmischen Umland), zum anderen sind es Mythen, Sagen, legendäre Volksüberlieferungen aus den Bergwelten. Oft genug waren gerade diese Darstellungsgegenstände der Bildenden Kunst, vor allem der Romantik. Verwiesen sei hier auf Wüstens "Museumsgänge", 1925 publiziert im "Neuen Görlitzer Anzeiger".

Es wäre weit auszuholen, sollte die Komplexität der Widerspiegelung von "Heimat", ihrer Geschichte, Kultur, Schauplätze und Menschengruppen in Johannes Wüstens Werk in Gänze vorgeführt werden, zumal Deutungschancen, die sich aus den Wechselbeziehungen verwandter Künste ergeben, aus neuen Untersuchungsrichtungen resultieren könnten. Der gebotene Platz zwingt, nur einige Beispiele näher zu betrachten. Dabei kann, exkurshaft, auf Zusammenhänge verwiesen werden.

1938 veröffentlichte Johannes Wüsten in Heft 9 der von Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger und Willi Bredel in Moskau herausgegebenen Exilzeitschrift "Das Wort" die Erzählung "Heimweh". Die Zeitschrift hatte schon zuvor Interesse an Arbeiten Wüstens gefunden. "Bessie Bosch" war 1936 erschienen; später schrieb Wüsten über "Guernica" von Pablo Picasso, entwarf ein Porträt des Bauernkriegsführers "Jakob Rohrbach" und äußerte sich zur Uraufführung "Bauernkrieg" von Franz Hauptmann, "Warum Joß Fitz?". Auch andere Exilzeitschriften gaben Johannes Wüsten Raum. "Beiträge zur Lage der deutschen Arbeiterschaft" brachte die von Thomas Mann und Konrad Falke in Zürich verlegte Zweimonatsschrift "Maß und Wert" sowie die Erzählung "In den Tagen des Menschensohns". In der "Internationalen Literatur. Deutsche Blätter" erschien die Malergeschichte "Flucht", während andere Malergeschichten im "Wort" publiziert werden konnten. Die Leser "draußen" erfuhren durch solche Texte eine Neubewertung deutscher Geschichte und Zustände, stärkten ihr Verbundenheitsgefühl mit der Heimat und vermochten sich durch den Kontakt mit Autoren und ihren Ideen auf ein Deutschland nach Hitler einzustellen. Nicht zuletzt aber sind Beiträge Wüstens in den Exilzeitschriften Ausdruck seiner gewachsenen internationalen Geltung. Nun wieder zur Erzählung "Heimweh".

Sie ist Teil der "Historischen Konturen. Fünfzehn Malergeschichten", die alle Künstler in ihrem Verhältnis zu Kunst und Gesellschaftt beschreiben. Der nur vier Druckseiten umfassende Text folgt einer meditativen Vorstufe als die Wüstens Aufsatz "Caspar David Friedrich" vom 6. Januar 1928 anzusehen ist. Hier konzentriert sich ihr Autor auf die Leiderfahrung des Künstlers im "brennenden Dornbusch der Einsamkeit".

Die Erzählung "Heimweh" bietet, weit über die Gedanken des Aufsatzes hinausgehend, ein ungewöhnliches, für Wüstens Heimatverbundenheit aufschlußreiches Koordinatensystem, das Landschaft, Malkunst und Philosophie meisterhaft verbindet. Der Erzähler berichtet aus den letzten Wochen des von ihm hochgeschätzten Malers Caspar David Friedrich (geboren am 5. September 1774 in Greifswald, gestorben am 7. Mai 1840 in Dresden). Die Landschaft seines Malens begleitet den zu Tode erschöpften Künstler in den Schlaf, in dessen Traum Jakob Böhme erscheint. Eine sonderbare Trinität, die sich mit dem Erzähler Wüsten, dem Maler und dem Görlitzer Philosophen herstellt. Die Grenzen zwischen noch wahrnehmbarer Wirklichkeit und Prophetie sind fließend. Dachte Johannes Wüsten an sein Nachleben? Denn das Traumgespräch mit Jakob Böhme schließt ermutigend: "Wohl dir, daß deine Bilder so voll Heimweh sind, voll Heimweh nach der Heimat, die vor uns liegt", Vordeutung des Weiterlebens eines bedeutenden Künstlers durch sein Werk nach dem leiblichen Tode und, zugleich, Bewußtwerden des unabdingbaren Endes eines Erdenlebens. Heimweh erhält in dieser Transparenz eine erschütternde Klarheit, empfänglich auch für die im Leben durchlebte Brüchigkeit des Glücks. Ein spätes Gedicht Wüstens sagt mehr aus und deutet auch die Abschiedsqualen seines Malers C. D. Friedrich.

Heimweh
Eis 'ge Stürme fegen nur durch Rock und Hut,
und die Pfützen sind wie Scherben, und im Schnee
versickert Blut,
doch mein Herz hört schon den Klang
dort vom Ende der Allee - bei den Fenstern,
wo die Lampe golden brennt.
summt ihr leis beim Abendbrot jenes Lied.

Kameraden ruhn auf kaltem Meeresgrund,
aus den Himmeln stürzte Feuer, und es schlug
die Häuser wund,
und es riß der Glocke Strang.
Doch im Keller tief zur Nacht schau' ich s fiebernd
und mein Herz pocht hart und heiß,
dass der Engel sich erhebt,
schon zu meinen Häupten schwebt.

Unbehaustheit, Krieg und Jammer, apokalyptische Stimmung und Seelenpein bestimmen diese Verse, hinter denen sich die Sehnsucht des liebenden, erbarmenden und hoffenden Menschen verbirgt, heimzukommen, geleitet von den Engeln, wobei offen bleiben muß, ob dieses Heimkommen ewige Ruhe oder neue Erdenqualen bedeutet.

"Heimweh", ein Schlüsseltext in Wüstens Erzählkunst, ist noch etwas näher zu betrachten. Er vergegenwärtigt den in "einem völlig kahlen Raum" liegenden Maler, dessen Staffelei auf eine der letzten Arbeiten verweist, zugleich aber Lebenslandschaft einfängt, Dresden, die EIbe, besetzt mit Frachtkähnen und Segelschiffen. Bereits 1795 war Friedrich nach Dresden gekommen. Nun, mit den Folgen von Schlaganfall und schwerer Krankheit kämpfend, sucht der seines Körpers längst überdrüssige Maler nach dem Tode.

Zeitgenossen beschrieben den erbärmlichen Zustand, so z. B. der russische Dichter Wassili Shukowski, der Friedrich 1840 noch einmal sah und im Tagebuch vermerkte: "Traurige Ruine. Er weinte wie ein Kind."14 Der Körper soll des Körpers sein, aber die Seele soll ihren freien Lauf haben. Während der Organismus zu vergehen scheint, "reist seine Seele", überschwebt die vertraute Bergwelt, "die ihn sein Leben lang begeistert hatte", Schneekoppe, Hohes Rad, der Reif träger und die Sturmhaube. Auch das könnte Wüstens Erlebnis gewesen sein. "Plötzlich ragt der Kreuzberg mit seinem Kruzifix aus den brodelnden Nebeln". Ein großartiges Bild mit tiefem religiösen Inhalt. "Das Kreuz im Gebirge", 1807/08 im Auftrage des Grafen Thun-Hohenstein für dessen Schloßkapelle im böhmischen Tetschen geschaffen, steigt vor dem Auge des Schlummernden empor. Ein Wahrzeichen, der Leidensgeschichte Jesu gewidmet, den Friedrich "für einen Freiheitskämpfer hielt". Es ist bekannt, daß dieses Werk den Künstlern in den politischen Meinungsstreit der Metternich-Ära hineinriß, dieses "Kruzifix aus Eisen, wie es auf den Felsen des Kreuzbergs den Nebeln der Nacht entstieg und vom Aufgang der Sonne umstrahlt wurde". Jeder, der dieses Bild betrachtet, spürt die von ihm ausgehende Verzauberung. Die Sonnenstrahlen assoziieren die Dreifaltigkeit, und das Immergrün der steil aufragenden Tannen, die das Kreuz umstehen, versinnbildlicht die Hoffnung der Menschen. Für dogmatische Zeitgenossen war Friedrich mit diesem in die Allnatur eingefügten Glaubenswerk schon tot, bevor er Jahrzehnte später die Welt verließ.

Und heute? Das "Kreuz im Gebirge" ist eines der Glanzstücke der Dresdener Gemäldegalerie. Mochte Wüsten an das Schicksal seiner Arbeiten oder die Spuren eines Weiterlebens gedacht haben, als Heimweh auch die innere Verbundenheit mit Herkunft und Arbeitsstätten verband?

Die Bergwelt, Heimat, Glaube, Allvaterdenken fließen bei dem Erzähler zusammen. Zwischen Leben und Tod sich wähnend, fühlt sich der Maler begleitet von einem "kleinen Mann mit langem kaum lockigem Haar und Knebelbart. Wie seltsam: Jakob Böhme, dessen Bücher er so liebte!" Auch dies ist in doppelter Weise autobiographisch. Philosophie und Gestalt des Philosophus teutonicus waren Wüsten vertraut. Erinnert sei an die 1926 entstandene Lithographie, die den Görlitzer Handwerker und Denker "mit langem kaum lockigem Haar" vor dem Hintergrund einer mittelalterlich bewehrten Stadt zeigt (es könnte Görlitz sein, da im Zentrum der aus dem 14. Jahrhundert stammende Nikolaiturm zu vermuten ist): Ernst-Heinz Lemper setzte den von Wüsten aufgefaßten Typus Jakob Böhmes in Beziehung zu einem Kupferstich vom Ende des 17. Jahrhunderts und der Medaille eines gewissen Morell aus dem Jahre 1707 (15) "Aurora oder Morgenröte im Aufgang" (entst. 1612) hieß Böhmes Hauptschrift, die Gott, das All als eine sich stets erneuernde, höchste Einheit der Gegensätze preist, Gutes wie Böses einschließend.

Lemper machte auch darauf aufmerksam, daß Philipp Otto Runge, dessen "naturphilosophische Ansichten über die Landschaftsmalerei" Caspar David Friedrich beeinflußten, Jakob Böhmes pantheistischer Weltschau folgte und durch diese z. B. für den Gemäldezyklus "Jahreszeiten" inspiriert wurde. 16 Auch Johannes Wüsten hatte in den "Museumsgängen" die "innerste Verwandtschaft" betont, die zwischen dem Görlitzer Schuhmacher und dem Hamburger Maler Philipp Otto Rungel7 bestand. Dicht ist das Beziehungsnetz zwischen philosophisch-mystischer Orientierung und romantischer Kunstauffassung, auch Inbegriff einer Heimatgläubigkeit, die in die Erzählung "Heimweh" eingegangen ist.

Wüsten scheute sich nicht, sein Verhältnis zu Jakob Böhme kritisch und ironisch zu hinterfragen. Die Größe des deutschen Mystikers verbot nicht, von den Annäherungsschwierigkeiten an Böhmes Lehren zu sprechen. Für die mehr rhetorische Frage "Wie finden Sie Jakob Böhme?" gibt es bei Wüsten nur eine schlüssige Antwort: "Ich finde ihn sehr modern." Erinnert sei noch, daß Wüstens Auseinandersetzung mit Jakob Böhme in den Plan eines vieraktigen Schauspiels über den Philosophen mündete, für das noch im Moabiter Untersuchungsgefängnis Notizen entstanden. Wüstens Denkrichtung erhellt sich aus zwei Fragen, "Wie macht man am besten klar, daß J.B. ein Umstürzler der gesamten christlichen Dogmatik war?" und "Wie ergibt sich daraus seine bahnbrechende Arbeit für die Aufklärungszeit?"
Mit einer Herausarbeitung des progressiven Charakters der Philosophie Böhmes hätte Wüsten seine Vorstellung vom "modernen" Denker erhärten können. So baut sich in "Heimweh" ein Traditionsgefüge auf, das Heimat nicht nur durch weltliche und religiöse Kämpfe belegt, sondern in den geistig-kulturellen Leistungen spiegelt. "Mich hat der Henker aus der lieben Heimatstadt geführt"; Bücher verbrannten auf dem Scheiterhaufen. Friedrichs Bekenntnis, "daß meine Bilder deiner ,Morgenröte' alles danken müssen"', erwidert der Philosoph mit dem Satz "Du siehst, man lebt sogar in seinen Werken weiter"
Auch das gilt für Johannes Wüsten.