Das Forellenquintett

Erstmals veröffentlicht in „Der Simpl“, Prag, 6. Februar 1935
Erschienen in „Tannhäuser – Erzählungen und Geschichten“, Verlag Volk und Welt Berlin 1976 und „Pseudonym Peter Nikl - Antifaschistische Texte und Grafik aus dem Exil“, Verlag Tribüne Berlin 1987

Damit begann die Geschichte, daß Anna, die achtzehnjährige Anna Becker durch den Wald gehend, an einer Wegbiegung sah, wie ein Mann bis an die Knie im reißenden Wildbach stand - mit krummem Rücken und tief eingetauchten Armen. "Sie wolln se wohl mit a bloßen Händen grabschen?" lachte sie, und als er plötzlich emporfuhr und, einen glitzernden Fischleib schon schlenkernd, diesen doch nur für kurze Sekunden über dem Wasser zu halten vermochte, fuhr sie ganz sachlich fort: "Man kriegt se ganz leichte zu fassen, bloß sie reißen sich glei wieder los, unse Forellen." Er schüttelte die Tropfen von sich, und sie saßen dann eine gute Weile beieinander. Ihre Augen schweiften immer wieder von den Konturen des Gebirgskammes ab in die allernächste Nähe. Der Tag neigte sich dem Ende zu, ein Septembertag, überfüllt fast von Tausenden vergoldeter Birken und Lärchen, schimmernden Sonnenflecken auf dem moosgrünen Waldboden und irisierenden Tautropfen. Man wird es darum verstehen, daß Arno Wolf die Anna schöner fand, als sie eigentlich war, und daß diese weniger Widerstand leistete als sonst, wenn ein Mann sie küssen wollte. Aber dann, mit einem ganz energischen Ruck sogar, riß sie sich los. "Nee", sagte sie, "`s wär ni gutt." Und schon stand sie als Silhouette vor dem Himmel, der sich rot zu färben begann. Arno, für einen Augenblick wirklich traurig, sagte: "Bist ebenso fix wie eure Forellen." Und unwillkürlich auf dem Heimweg summte er bald, bald pfiff er das Motiv des Forellenquintetts. - Anna, wie die meisten Gebirgler von gutem Gehör, horchte auf: "Sie, das ham se doch neulich uff Ihrer Geige gespielt, ni!?" fragte sie ihn, "das hat mr siehr gefalln, Sie, das ging uffs Gemiet."
Er hätte fast gelacht über ihre primitiven Ausdrücke, aber er unterdrückte dies Lachen rasch. Er sprach nichts, er sah sie nur so an, daß Anna es beinahe bereute, sich vorhin so schnell von ihm getrennt zu haben. "Er is mir wirklich gutt", dachte sie, "und ich ihm ja eigentlich o." Da standen sie schon vor seinem Haus. Er bat sie, ein wenig zu warten, kam gleich wieder mit einem Koffergrammophon und stellte es auf den Gartentisch. Sie lauschte hingebungsvoll, ja, das war das Stück. Selig wie ein Kind am Geburtstag trug sie die Platte, die er ihr geschenkt hatte, heim und zeigte sie ihrem Bruder: "Die erschte Geige, die wo man druf heert, die hat der Herr Wolf selber bei der Uffnahme gespielt." Und der Bruder sagte grinsend: "Siehr gutt is das zu hörn, Anna." Nun erst fiel ihr ein: sie hatte ja gar keinen Apparat. Da legte sie die schwarze Scheibe sorgsam neben ein paar Blumen, die fast ebenso flach gepreßt waren, schloß den Spind ab und wischte sich tapfer eine kleine Träne von den Augen, dann hatte bereits ihre resolute Art wieder gesiegt: "S wär vielleicht was gewesen, og mir sein zu weet auseinander, ich bin nu mal vom Durfe, und das läßt sich ni ändern!"
Wenn freilich Anna nicht viel in ihrem Leben zu ändern vermochte, so änderte die Zeit desto mehr. Arno Wolf schrieb ihr Karten von seinen Reisen. "Bloß deutsche Marken", sagte der Bruder. Aber plötzlich kamen nur noch welche aus fremden Ländern: Das Arno-Wolf-Quintett war aus dem deutschen Musikprogramm gestrichen worden.
Dafür wurden im Dorf die Stuben wieder sehr eng. Es war allen, die aus Väterzeiten noch einen Webstuhl auf dem Speicher hatten, angeraten worden, statt der Wohlfahrt zur Last zu fallen, doch die schöne alte Heimarbeit wieder aufzunehmen. Und so klapperten die großen Gestelle von sechs Uhr früh bis elf Uhr nachts, und als die Weber sich den Lohn besahen, da sagte einer von den Alten: "Jetze a jeder noch die Schwindsucht, und's is genau so wie vor füffzig Jahren." Freilich sagte er es leise, denn in diesem Punkte war es anders geworden als früher.
Und auch noch in einem andern. Arno Wolf schrieb grade an Anna, sie könne ihn von Luxemburg am Mittwoch hören, da las er, daß ein wenig früher der Deutschlandsender eine Reportage brachte: "Sie weben wieder. Ein Funkbericht aus dem Riesengebirge". Arno schüttelte den Kopf. Es klang ihm wie beißender Hohn. Aber als die Stunde kam, stellte er ein: etwas würde doch echt sein, etwas in den Stimmen. Freilich, sie werden alle gleichgeschaltet reden, sie können ja wohl gar nicht mehr anders. Doch als er horchte, überkam ihn ein großes Staunen. Nichts als karge Antworten: "Nu ja, nu nee, nu's is eben asu." Fast tat ihm schon der Reporter leid, der so gar nichts zu bieten vermochte von der zuvor so laut gepriesenen "bodengebundenen Volkskunst des Webens". So suchte dieser bald zum Schluß zu kommen, und da zu irgendeinem Höhepunkt. "Sie haben doch so alte traute Lieder zum Webstuhl", lockte er, "singen Sie doch mal was!" Schweigen. "Na, Sie da, wie heißen Sie denn? Anna? Anna Becker! Also bitte ein schlesisch Lied für alle deutschen Gaue!" Und plötzlich, zitternd vor Erregung, hörte Arno die ihm so liebe Stimme Annas fest und rhythmisch stark nicht singen, sondern deklamieren:
"Wo man Wassersuppe ißt
und das Fleesch im Topp vergißt,
Arbeet und kee Lohn dabei,
dort is die scheene Waberei!"
In der nächsten Sekunde riß die Übertragung ab, und dann kam eine Schallplatte mit Marschmusik. Mit glühender Stirn hatte Arno gelauscht, und es ward ihm auf einmal sehr bange. Anna, liebe kleine Anna, wie wird dir das ausgehen? Aber, dachte er dann plötzlich, du warst ja doch immer schon wie jene Fische in euren Wildbächen, und vielleicht, indem ich mich sorge, daß sie dich gefangenhalten, hast du dich schon wieder losgerissen. Dann ging er in den Senderaum, und nie hat er sehnsüchtiger gewünscht, daß Anna es jetzt hören möge, ihr geliebtes Forellenquintett.